Forschungsprofil Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie

Die Mitarbeiter des Lehrstuhl beschäftigen sich mit Themen aus den Bereichen (i) Allgemeine Wissenschaftstheorie, (ii) Spezielle Wissenschaftstheorie (insbes. die der Physik) und (iii) Formale und computergestützte Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

Forschungsschwerpunkte

Die allgemeine Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit philosophischen Fragen, die alle – oder zumindest viele – Wissenschaften bzw. die Wissenschaft als Ganzes betreffen. In diesem Bereich gilt unser Interesse Fragestellungen wie den folgenden: Was heißt es, dass eine wissenschaftliche Theorie durch Evidenz bestätigt wird? Was ist eine wissenschaftliche Erklärung? Wie lassen sich Analogie-Schlüsse und Schlüsse auf die beste Erklärung rechtfertigen? Wie können Idealisierungen interpretiert und plausibilisiert werden? Welche Art von Wissen generieren Computersimulationen? Wie kann Kausalität definiert werden? Wie lassen sich Algorithmen für die Auswahl von Kausalhypothesen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsverteilungen bewerten? Ist Verstehen ein Ziel der Wissenschaft? Und wie hängen Kausalität, Erklärung und Verständnis zusammen? Was sind wissenschaftliche Modelle und Theorien? Und welche verschiedenen Rollen spielen diese in den Einzelwissenschaften? Wie lässt sich die mathematische Struktur wissenschaftlicher Theorien am besten beschreiben? Welche Rolle spielen ästhetische Werte in der Wissenschaft? Tragen Begriffe wie „Reduktion“ und „Emergenz“ zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen verschiedenen Theorien bei? Worin besteht die Rolle der Mathematik, Statistik und Wahrscheinlichkeit in der Wissenschaft? Was bedeutet wissenschaftliche Objektivität? Muss Wissenschaft frei von nicht-epistemischen Werten und Interessen sein? Was ist kritikwürdig an manchen Formen von Wissenschaftskritik bzw. Wissenschaftsskeptizismus? Welche sozialen Aspekte sind charakteristisch für die Wissenschaft?

Die spezielle Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit philosophischen Fragen, die sich in den verschiedenen Einzelwissenschaften stellen. Dabei liegt unser Interesse vor allem auf der Physik, der Psychologie, den Sozialwissenschaften, der Statistik und der Künstlichen Intelligenz-Forschung. Hier gilt unser Interesse Fragestellungen wie den folgenden.

In der Philosophie der Physik gilt unser Interesse vor allem der Quantentheorie und der Theorien von Raum und Zeit. Was ist der Status von Eichsymmetrien? Was folgt aus der Praxis effektiver Feldtheorien für die Diskussion um Emergenz und Reduktion? Ist die Thermodynamik schwarzer Löcher mehr als eine formale Analogie? Ist das Universum ein offenes System? Was ist der epistemische Wert von Diskretisierungsmethoden in der Physik? Sind Raum und Zeit fundamental oder sind sie in einem bestimmten Sinn emergent? Wie verwenden Physiker die Mathematik, um die Welt zu erklären? Welche Rolle spielen Symmetrien in diesen Erklärungen? Sind quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten subjektive Wahrscheinlichkeiten?

In der Philosophie der Sozialwissenschaften interessieren wir uns für die Entstehung sozialer Normen, die Rolle von Verzerrungen („biases“), und wie Gruppen Entscheidungen treffen. Was sind die Vor- und Nachteile von Gruppen-Deliberationen, die am Ende in einem Konsens münden? Und wie können etwaige Verzerrungen (wie der Verankerungseffekt) korrigiert werden? In der Philosophie der Statistik und künstlichen Intelligenz arbeiten wir zu alternativen Repräsentationen von Unsicherheit (wie der Theorie unpräziser Wahrscheinlichkeiten) und forschen zu den Grundlagen der mathematischen Theorie des maschinellen Lernens. In der Philosophie der Psychologie und der Neurowissenschaften fragen wir, ob man aus dem Erfolg der prädiktiven Verarbeitungstheorie des menschlichen Geistes („predictive processing“) schließen kann, dass das Gehirn eine Bayes'sche Maschine ist. Und: Welche Implikationen hat eine naturalistische Theorie des Gedächtnisses für Fragen nach der persönlichen Identität und der Ethik? In der Philosophie der Medizin untersuchen wir, wie verschiedene Typen von Evidenz miteinander kombiniert werden können. Schließlich gehen wir in der Philosophie der Klimawissenschaften der Frage nach, wie das IPCC-Gremium den Grad des Verständnisses bestimmter Aspekte des Klimawandels bewertet und wie Fortschritt in der Klimawissenschaft gemessen werden kann.

Formale und computer-gestützte Methoden finden inzwischen in vielen Bereichen der Philosophie Anwendung. Unser Interesse gilt hier v.a. Anwendungen aus der allgemeinen Wissenschaftstheorie und der individuellen und sozialen Erkenntnistheorie. Dabei geht es uns nicht zuletzt darum herauszufinden, wie weitgehend wissenschaftliches Schließen und Argumentieren im Rahmen des Bayesianismus rekonstruiert werden kann. Eines unserer aktuellen Ziele ist es in diesem Zusammenhang, eine kohärentistische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie zu entwickeln. Darüber hinaus verwenden wir Elemente der Netzwerktheorie und die Methode der agenten-basierten Modellierung, um Effekte wie Polarisierung und andere Verzerrungen („biases“) in Gruppen-Deliberationen zu untersuchen und zu bestimmen, wie diese ggf. korrigiert werden können. In diesen Bereich fallen auch unsere Untersuchungen zu Grundlagenfragen der Künstlichen Intelligenz und zu den Möglichkeiten und Grenzen induktiven Schließens. Schließlich verwenden wir philosophische und mathematische Werkzeuge, um Fragen des Bewusstseins anzugehen. Dabei geht es uns um die formale Struktur von Bewusstseinstheorien, Messmodelle in der Bewusstseinsforschung und die Frage, ob künstliche Intelligenz zu bewussten Erfahrungen fähig ist.

Repräsentative Publikationen

  1. Baccini, E., Christoff, Z., Hartmann, S. & Verbrugge, R.: The Wisdom of the Small Crowd: Myside Bias and Group Discussion. Journal of Artificial Societies and Social Simulation 26 (4): 7 (2023).
  2. Cuffaro, M. & Hartmann, S.: The Open Systems View and the Everett Interpretation. Quantum Reports 5: 418–425 (2023).
  3. Dougherty, J.: The Non-Ideal Theory of the Aharonov–Bohm Effect. Synthese, 198(12): 12195–12221 (2021).
  4. Ojea Quintana, I., Rosenstock, S. & Klein, C.: The Coordination Dilemma for Epidemiological Modelers, Biology and Philosophy 36: 54 (2021).
  5. Reutlinger, A., Hangleiter, D. & Hartmann, S.: Understanding (with) Toy Models. The British Journal for the Philosophy of Science 69(4): 1069–1099 (2018).
  6. Reutlinger, A.: Is there a Monist Theory of Causal and Noncausal Explanations? The Counterfactual Theory of Scientific Explanation. Philosophy of Science 83 (5): 733-745 (2016).
  7. Reutlinger, A.: What is Epistemically Wrong with Research Affected by Sponsorship Bias? The Evidential Account. European Journal for Philosophy of Science 10 (2): 1-26 (2020).
  8. Rivat, S.: Effective Theories and Infinite Idealizations: A Challenge for Scientific Realism. Synthese 198 (12): 12107-12136 (2021).
  9. Sprenger, J. & Hartmann, S.: Bayesian Philosophy of Science. Oxford: Oxford University Press, 2019.
  10. Sterkenburg, T. & Grünwald, P.: The No-Free-Lunch Theorems of Supervised Learning. Synthese 199 (3): 9979-10015 (2021).

Laufende Drittmittelprojekte

Titel des ProjektsPersonenDrittmittelgeberZeitraum
Argumentation in a Social ContextStephan HartmannDFG2024 - 2027
The Scaling Revolution in Physics: Historical and Philosophical PerspectivesSébastien RivatERC Starting Grant2025 - 2030
The Scale Revolution in PhysicsSébastien RivatInitiative: Pioniervorhaben Exploration der VolkswagenStiftung2024 - 2027
From Bias to Knowledge: The Epistemology of Machine LearningTom SterkenburgEmmy Noether-Programm der DFG2023 - 2029
Amalgamating Evidence About Causes: Medicine, the Medical Sciences, and BeyondStephan Hartmann (LMU)
Jacob Stegenga (Cambridge)
Arts and Humanities Research Council (AHRC, Großbritannien)
DFG (“UK-German Collaborative Research Project in the Arts and Humanities”)
2023 - 2026
The Universe as an Open SystemStephan Hartmann
James Ladyman
Karim Thebault
David Sloan
Arts and Humanities Research Council (AHRC, Großbritannien)
DFG (“UK-German Collaborative Research Project in the Arts and Humanities”)
2021 - 2024
The Bayesian Approach to Robust Argumentation MachinesStephan Hartmann
Ulrike Hahn (Mercator Fellow)
DFG Schwerpunktprogramms “Robust Argumentation Machines”2021 - 2024
Aesthetic Testimony in ScienceAlice MurphyBavarian Gender Equality Grant (BGF)2023 - 2024
Three Methodological Problems in Memory ScienceDavid ColacoDFG2023 - 2025
Ampliative Analysis, Grounds and ConsequencesIdit ChikurelMinerva Stiftung2022 - 2024
Causal Extrapolation in Theory and PracticeNaftali WeinbergerDFG2023 - 2026
Deep Learning in der Teilchenphysik: Eine philosophische AnalyseMartin KingDFG2022 - 2025
Climate Models and Climate Scientific UnderstandingGabriel TarziuHORIZON TMA MSCA Postdoctoral Fellowship2022 - 2024
Indeterminacy and SpacetimeLaurie LetertreHORIZON TMA MSCA Postdoctoral Fellowship2023 - 2025
Black Holes and Quantum Field Theory on Curved SpacetimeJohn Dougherty (LMU)
Aron Wall (Cambridge)
Cambridge-LMU Strategic Partnership2022 - 2024
Decision Theory and the Future of Artificial IntelligenceStephan Hartmann (LMU)
Jacob Stegenga (Cambridge)
Cambridge-LMU Strategic Partnership2020 - 2024